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- Schwärmer, Täufer: Extreme der GlaubensverinnerlichungSpiritualisten,Schwärmer, Täufer: Extreme der GlaubensverinnerlichungLuther wollte trotz all seiner Radikalität die weltliche Obrigkeit auf seiner Seite wissen, was zeitweise eine Gratwanderung erforderte. Schließlich versprach er sich von ihr Hilfe bei der Durchsetzung seiner Reformen und Schutz vor dem Zugriff des Papsttums. Dies belegen die mäßigenden Predigten nach seiner Rückkehr von der Wartburg wie auch seine Haltung im Bauernkrieg. Es bildete sich aber eine Reihe von Gruppierungen, die der Ansicht waren, seine Neuordnung ginge noch nicht weit genug. Dieser »linke Flügel« der Reformation, die Radikalreformer - Luther und seine Zeitgenossen nannten sie kurz Schwärmer oder Schwarmgeister -, war alles andere als eine einheitliche Bewegung; gemeinsam war ihnen hauptsächlich der dringende Wunsch nach einer anderen Gesellschaftsordnung.Zu ihren eher sozialreformerisch veranlagten Vertretern zählten die »Zwickauer Propheten«, die beiden Tuchmacher Storch und Drechsel und der ehemalige Student Thomae (auch Stübner genannt), die 1521 durch ihre beachtlichen Bibelkenntnisse in Wittenberg Aufsehen erregten. Sie propagierten zwar Gewalt als Mittel, reformatorische Anliegen wie die Reform der Messe und die Auflösung der Klöster durchzusetzen, betrieben allerdings auch die Umwandlung kirchlichen Stiftungsvermögens in eine Hilfskasse für die sozial Schwachen.Bei den Schwärmern handelte es sich keineswegs ausschließlich oder überwiegend um Umstürzler und Gewaltbereite. Sie erstrebten vielmehr eine tiefergehende Rückbesinnung auf die Urkirche und nahmen dazu Motive der deutschen Mystik wieder auf. Ihre Kritik richtete sich auf die sakramentale Praxis, speziell die seit dem 6./7. Jahrhundert allgemein übliche Kindertaufe. Die Taufe sollte ein Zeichen der bewussten Entscheidung für das Christentum sein, weswegen sie dazu übergingen, eine erneute Taufe der Erwachsenen durchzuführen - was ihnen den Namen »Wiedertäufer« einbrachte. Die erste Täufergemeinde bildete sich 1525 im schweizerischen Zollikon; sie geht auf Conrad Grebel und Felix Manz zurück. Ihre kleine Gemeinschaft wollte nicht die Großkirche reformieren, sondern hatte die individuelle Heiligung und Sündlosigkeit ihrer Mitglieder zum Ziel; die Orientierung an der Schrift ließ sie Eid, Kriegsdienst und Zinsnahme ablehnen. Obwohl sie zum friedliebenden Vorbild der spirituellen Täufergemeinden wurden, fand ihr Leiter Manz wie viele andere bereits 1527 den Tod am Galgen.Mit der raschen Verbreitung der Täufer vor allem in den unteren Gesellschaftsschichten Süddeutschlands - zu Zentren der Bewegung wurden Augsburg und Straßburg - ging ihre gnadenlose Verfolgung einher; seit 1529 sah das Reichsrecht auch offiziell die Todesstrafe vor. Der Grund für das rigide Vorgehen lag dabei weniger in theologischen Motiven, etwa der Befürchtung eines Wiederauflebens des Ketzertaufstreits des 3. Jahrhunderts, als vielmehr in der politischen Dimension ihrer Utopie: Ihre Entschlossenheit, ein »wahres« Christentum im Diesseits zu errichten, wurde ihnen zum Verhängnis. Dies gilt in besonderem Maße für Thomas Müntzer und seine Anhänger, die bei der Durchsetzung ihres apokalyptischen Täufertums vor Gewalt nicht zurückschreckten. Seine Überzeugung, die wahrhaft Gläubigen würden sich angesichts des unmittelbar bevorstehenden Weltendes sammeln und die Gottlosen, Reichen und Mächtigen vernichten, ließ ihn zum Vorkämpfer des Bauernkrieges werden.Nicht alle ehemalige Anhänger Müntzers konnten seine revolutionären Einstellungen mittragen. Zu den Hauptvertretern dieser Spiritualisten gehörte Hans Denk, dessen tolerante Haltung aus einem Weltbild erwuchs, das dem Sichtbaren - und dazu rechnete er auch die Politik - gegenüber dem Geistigen keine große Bedeutung zubilligte; so wurde er zum Vertreter einer individualistischen, undogmatischen. Christlichkeit. In scharfem Gegensatz zu den Reformatoren verwarf er auch die Bibel als ein äußerliches Hilfsmittel, das den Glauben nicht fördern könne, weil es nicht fähig sei, etwas Wesentliches über Gott auszusagen. Seine These, die Heilige Schrift sei in weiten Teilen selbst für den gelehrten Leser unverständlich, belegte er mit einer umfangreichen Aufstellung von Widersprüchen innerhalb der Bibel.Der bedeutendste und einflussreichste Spiritualist der Reformation, der Geschichtsschreiber Sebastian Franck, nahm Denks Sicht der Bibel auf und fand zu einem pessimistischen Geschichtsverständnis ohnegleichen: Die Geschichte ist nur ein »Mummenschanz« Gottes, der sein Spiel mit den Menschen treibt und sich dem menschlichen Erkennen völlig entzieht. Würde sich der Mensch von der Außenwelt lösen, so könnte er Gott überall in sich entdecken, im Gewissen oder Verstand, zuletzt könnte er mit ihm sogar zu einer mystischen Einheit verschmelzen. Als ausgeprägter Individualist weigerte sich Franck auch, sich irgendeiner Strömung anzuschließen. Mit seinem subjektiven Heilsweg, der einen Widerpart zu Luther bildete, übte er einen erheblichen Einfluss auf das neuzeitliche Denken bis zur Gegenwart aus.In einer weit weniger spirituellen Sonderform des niederländischen Täufertums mischten sich Müntzers endzeitliche Vorstellungen mit den Prophezeiungen von einem Tausendjährigen Reich, dem Chiliasmus. Der Kürschner Melchior Hoffmann verbreitete die Idee, 1533 werde es zu dem in der Johannesapokalypse geschilderten Endkampf kommen, und das westfälische Münster werde das neue Jerusalem, das Zentrum eines anbrechenden Gottesreiches. In der Tat verstanden es seine Anhänger, das Stadtregiment von Münster zu übernehmen und setzten 1534 die Wahl eines Rats der Täufer durch. Der zum König ausgerufene Schneider Johann Bockelson aus Leiden und sein Statthalter Knipperdolling errichteten für eineinhalb Jahre ein Schreckensregiment, in dem Gütergemeinschaft, Polygamie und Terror herrschten; es endete in einem fürchterlichen Blutbad.Mit dem Täuferreich von Münster war dem Ruf der übrigen friedlichen Täufergemeinden kaum wieder gutzumachender Schaden zugefügt worden, es schien ihre Verbindung zu den Radikalreformern zu beweisen. Erst dem 1536 hingerichteten Jakob Huter und Menno Simons gelang trotz massiver Verfolgung die innere Erneuerung und Neuorganisation der Täufer. Die ursprünglich in Mähren entstandenen »Hutterischen Brüder« leben als Glaubensgemeinschaft auch heute noch in Nordamerika in Gütergemeinschaft auf den hutterischen »Bruderhöfen« weiter. Die Kirche der »Mennoniten« oder »Taufgesinnten« besteht ebenfalls noch heute. Viele von ihnen wanderten allerdings im 17. Jahrhundert nach Amerika, im 18. Jahrhundert nach Russland aus. Bleibende Verdienste erwarben sie sich um die Idee religiöser Toleranz und den Pazifismus.Dr. Ulrich RudnickVolksfrömmigkeit in der frühen Neuzeit, herausgegeben von Hansgeorg Molitor und Heribert Smolinsky. Beiträge von Klaus Ganzer u. a. Münster 1994.
Universal-Lexikon. 2012.